Je weniger das ursprünglich "homogene" Milieu eines Ortes seine äußere Abgeschlossenheit und innere Verbundenheit festhalten kann, je mehr dieser durch äußeren Verkehr und innere Auseinandersetzung in den großen Vorgang von Arbeitsteilung und Wesensangleichung einbezogen wird, desto vielfältiger wird das Wechselspiel zwischen den Beharrungskräften einerseits und den Kräften der Zersetzung andererseits. Differenzierung, Gewinn und Verlust an sozialer Identität bezeichnen auch die Entwicklung in Gönningen. Aus bäuerlich-handwerklichen Verhältnissen ging hier eine vom Handel geprägte Wirtschafts- und Lebensform hervor, die sich lange erhalten hat, aber doch den heutigen Wertvorstellungen immer weniger standhält. Ihr legendärer Ruf gründete sich nicht zuletzt auf den Vergleich mit der damals vielfach armseligen Lebenswirklichkeit anderer Dörfer, aber die alte Wirtschafts- und Sozialstruktur ist inzwischen fast völlig verschwunden. Man sieht es bereits am Ortsbild: das alte Dorf ist gerade noch im hergerichteten Ortskern ein wenig zu erkennen. Aber eine Samenhändlergemeinde ist Gönningen längst nicht mehr.
Bei Außenstehenden gilt der Gönninger Samenhandel oft noch immer als Musterbeispiel für Dauerhaftigkeit und Krisensicherheit. Dagegen gewinnen hier die doch zunehmend als fragwürdig empfundenen Glücksverheißungen einer meist durch innere und äußere Abhängigkeit gekennzeichneten Arbeitswelt weiterhin an Anziehungskraft, verkümmert selbst in der Erinnerung der Mitbürger das Bild vom weithin bekannten "schwäbischen Dorf, das den Weltmarkt gewann", zum oft nur noch nachsichtig belächelten anekdotischen Kuriosum. (Heute allerdings wäre vielleicht mancher schon wieder froh über eine solche immer noch vergleichsweise sichere Existenz).
Aber das einigende Band des alten Selbstverständnisses und Selbstwertgefühls existiert jedenfalls nicht mehr. Nur wenig ist von Gönningens großer Vergangenheit übriggeblieben.
Seine höchste, vielbestaunte Blüte erlebte dieser Samenhandel um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, aber da hatte der Prozeß der qualitativen Einebnung, Typisierung und Standardisierung, der heute fast alle Lebensbereiche erfaßt hat, gerade erst begonnen. Es gab keine soziale Absicherung, man war auf sich allein gestellt, vertraute auf Gott und die eigenen Fähigkeiten. Alles Gerede vom neu erwachten Geschichtssinn ändert nichts daran, daß die Zeit der individuellen Ausprägungen einstmaliger Unternehmerlust, die sich in Gönningen nicht selten in Originalität, Witz und einer schon mal über die Grenzen des Schicklichen und Erlaubten hinausgehenden Aufmüpfigkeit und Grobheit äußerten, vorbei ist; es ist still geworden um den berühmten Gönninger Samenhandel.
Fragt man sich, woher es kommt, daß es in den jetzt noch 18 Gönninger Samenhandelsfirmen nur vereinzelt interessierte Nachfolger gibt, so wird man allerdings nicht nur den zeitbedingten generellen Mentalitätswandel dafür verantwortlich zu machen haben; die Ursachen sind vielschichtig. Sie liegen nicht zuletzt in der historischen Entwicklung selbst, vor allem aber in der heutigen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Gesamtsituation, die den alten Familienbetrieben nur wenig Chancen für das wirtschaftliche Überleben zu lassen scheint.
Es ist in diesem Rahmen natürlich nicht möglich, das
in der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte
einmalige Phänomen des Gönninger Handels ausführlicher
darzustellen, doch muß man sich zum Verständnis seiner
gegenwärtigen Probleme überhaupt erst einmal an seine
Entstehung und Entwicklung erinnern.
Es ist anzunehmen, daß die Zustände des alltäglichen Daseins in Gönningen vor dem Dreißigjährigen Krieg sich kaum nennenswert von anderen örtlichen Zuständen auf dem Land unterschieden haben. Darum scheint die von Dr. Kinkelin entdeckte Zufallseintragung im Gönninger Kauf- und Fleckenbuch, wonach unter dem 19.Juni 1594 bereits der "Schuolmeister Hanns Ruoff" einem Jacob von Saulgau für 12 Gulden (eine damals sehr hohe Summe) Samen abgekauft hat, wohl eben doch mehr auf ein zufälliges Ereignis hinzuweisen. Doch spricht auch nichts dagegen, daß man darin ein Zeichen für die Kontinuität einer vielleicht in irgendeiner Form schon bestehenden Handelstätigkeit zur Zeit der mittelalterlichen Stadt Ginningen sehen und sie für einen ersten Hinweis auf den Samenhandel in Gönningen halten darf. Wahrscheinlich aber waren es wohl eher die sich aus der in Altwürttemberg üblichen Besitzteilung und aus der großen Not nach 1648 ergebenden wirtschaftlichen Zwänge, die in dem damals etwa 600 Bewohner zählenden Dorf die ersten Anstöße zum Handel mit Zwetschgen, Äpfeln, Birnen und Dörrobst, dem "Schnitz" gegeben haben. Erst nach und nach kamen weitere Artikel eigener und fremder Produktion dazu, Honig, Pflanzen, Nüsse, Zwiebeln, Hopfen, Käse, sogar Uhren, sehr früh allerdings auch schon Sämereien aller Art. Die von Hans Schimpf erwähnte Eintragung im Gönninger Totenregister) vom 12.März 1748, wonach der Metzger Michael Häußler "auff dem Saamen Handel nach außgestandener kurzer Krankheit im Neuen Spitthal löbl. Cantons Bärn in der Schweiz" gestorben ist, deutet jedenfalls darauf hin, daß Samen schon in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts eine erhebliche Rolle gespielt haben muß, sonst hätte man schwerlich ausschließlich mit Samen so verhältnismäßig weite Reisen unternommen.
Gewiß waren es erst wenige, die schon zu dieser Zeit im Handel eine Möglichkeit zum zusätzlichen Broterwerb entdeckt hatten. Doch mit dem raschen Anwachsen der Bevölkerung wurde es immer notwendiger, nach neuen Wegen zur Sicherung der eigenen Existenz zu suchen. Weder die landwirtschaftliche Grundlage der Gemarkung noch die übersetzten Handwerksberufereichten zur Ernährung aus, so daß es - bekanntlich nicht nur in Gönningen, sondern auch im Killertal, in Eningen und anderen Orten - zur Ausbildung eines Hausierhandels kam, der sich dann bald als fast unentbehrlich auch für die Versorgung der meist in abgelegenen Gegenden wohnenden Abnehmer erwies.
Es war nicht allein die Angst vor der Armut, vor dem weiteren
Absinken in die Masse der Mittel- und Arbeitslosen, die diesem
Handel immer neuen Auftrieb verlieh. Seine rasche Ausbreitung
wäre gerade beim Gönninger Samenhandel gar nicht vorstellbar
ohne den ständigen Impuls, der von der eigentlichen "Nachfrageseite"
ausging. Es fällt heute schwer, sich vorzustellen, wie isoliert
und fernab die Leute früher in ihren Dörfern lebten.,
als sie noch auf Pferd und Wagen angewiesen waren, was es bedeutete,
Menschen und Waren von einem Ort in den anderen zu transportieren.
Der regelmäßig vorsprechende Händler leistete
einen Dienst, der von der Landbevölkerung hoch geschätzt
wurde. Der Besuch der Samenleute bot nicht nur die Möglichkeit
zur Deckung des Saatgutbedarfs, sondern erfüllte auch die
Aufgabe, den Kontakt zur Welt aufrechtzuerhalten, Geschichten
und Gerüchte zu hören, sich über Aussaat, Ernte
und sonst Einschlägiges, aber auch hinsichtlich anderer interessanter
Dinge und Ereignisse zu informieren. Diese Erwartung der Kunden
war es, die dem Handel auch jenseits des rein Geschäftlichen
einen besonderen Anreiz gab; sie begründete oft ein freundschaftliches,
manchmal geradezu familiäres Verhältnis zwischen dem
Kunden und dem Lieferanten, das vielfach über Generationen
fortbestand.
Es verwundert aber auch nicht, daß die räumliche und geistige Enge daheim und die allgemeine Aufbruchsstimmung in Deutschland nach den napoleonischen Kriegen bei vielen jungen Leuten den Wunsch weckten, den meist bedrückenden, nun auch nicht mehr mit geduldiger Ergebung in ein unabänderliches Schicksal hingenommenen häuslichen Verhältnissen zu entgehen und eine eigene, freiere Existenz anzustreben. Begünstigt wurde diese Tendenz vor allem durch die allmähliche Verbesserung der Verkehrsverhältnisse infolge Aufhebung der Binnenzölle in den erweiterten Staatsgebieten, und besonders natürlich infolge des Ausbaues des Eisenbahnnetzes um die Mitte des vorigen Jahrhunderts.
Der Ort zählte um das Jahr 1800 etwa 1650 Einwohner, in den
Jahren 1840-49 stieg ihre Zahl auf den bis zum letzten Krieg höchsten
Stand, nämlich auf 2534 an. Von diesen waren etwa 1200 bis
1300 Personen unmittelbar mit dem Handel befaßt.
Bedenkt man jedoch, daß auch die Tätigkeit der übrigen Dorfbewohner, z.B. der Gastwirte, Fuhrleute, Handwerker, der Lehrer, des Pfarrers, schon wegen der monatelangen Abwesenheit der Samenhändler fast immer irgendwie davon betroffen war, so kann man leicht ermessen, wie sehr dieser Handel das allgemeine Lebensgefühl hier beeinflußt haben muß. Man bangte um die, welche in ferne Länder gereist waren; man freute sich über ihre glückliche Rückkehr oder trauerte um einen Angehörigen, der auf der Reise den Tod gefunden hatten. Die Gedenktafel in der Gönninger Kirche "zur Erinnerung an die 244 in Ausübung ihres Berufes in Rußland, Ungarn, Österreich, Schweiz, Amerika und Dänemark verstorbenen und nicht in die Heimat überführten Gönninger Samenhändler" läßt auch heute noch etwas von den Gefahren und Risiken dieser Reisen ahnen. Aber es entsprach wohl einfach einer gewissen "Rollenerwartung", wenn auch diejenigen, welche die Gefährlichkeit und die Strapazen des Reisens nur ungern auf sich nahmen, sich schließlich doch immer wieder vom Unternehmungsgeist der Erfolgreichen anstecken ließen. Bei aller rational begründeten geschäftlichen Notwendigkeit war dabei zweifellos auch ein bißchen Abenteuerlust mit im Spiel, verbunden mit der Hoffnung auf möglicherweise entscheidende Veränderungen in den eigenen, auch in geistiger Hinsicht vielfach als unbefriedigend empfundenen Lebensverhältnissen. Man durfte sich überdies von der Betätigung einer im beginnenden Industriezeitalter allenthalben erwachten unternehmerischen Gesinnung auch eine Hebung des sozialen Ansehens versprechen.
In einer Zeit, die noch kaum eines der für uns heute selbstverständlichen
technischen Kommunikationsmittel kannte (die Telegraphie kam erst
nach 1857 mit der Konstruktion des Morseapparats auf), erfuhr
man in Gönningen die Neuigkeiten und großen Ereignisse
in der Welt aus den Erzählungen der von der Reise zurückgekehrten
Händler. Deshalb war man hier gewiß besser als anderswo
auf dem Land mit Informationen aller Art versehen, die wiederum
auch dem Handel zugute kamen. Die (sicherlich nicht immer von
Renommiersucht freien) Schilderungen im Wirtshaus oder bei anderen
Zusammenkünften waren gleichsam auch Börsen- und Wirtschaftsberichte,
die der Orientierung dienten. Man sagte den Gönningern allgemein
eine vergleichsweise größere Weltgewandtheit nach;
freilich auch mit der Kehrseite: "Da sie auf den Reisen mit
vornehmen Leuten vielen Verkehr haben, wird ihre Aussen Seite
sehr abgeschliffen, aber leider oft zum Nachtheile des ädleren
Inneren" (Pfarrbericht 1827).
Die große Armut als Folge der französischen Kontributionen um 1800 und der Hungersnot nachden Mißernten von 1816 und 1817 erlebte man zwar ganz unmittelbar selber, wenn auch in Gönningen nicht im gleichen Ausmaß wie anderswo. Schon der damalige Ortspfarrer Simon Friedrich Wurster mußte - ungeachtet dessen, was er sonst wegen der durch den Handel eingeschleppten "schlechten Sitten" an der Gemeinde auszusetzen hatte - doch auch ihre Wohltätigkeit gegenüber den Armen loben, "welche ihren Grund in der Gewerbsart hat". Man kannte in Gönningen schon Handelswege und allgemeine wirtschaftliche Tendenzen besser als üblicherweise in anderen Dörfern und machte von diesem Wissen entsprechenden Gebrauch. So dürfte etwa das Bekanntwerden des zunehmenden Imports von Leinwand aus England nach Aufhebung der Kontinentalsperre den vielen hier noch vorhandenen Webern schon verhältnismäßig früh die Nutzlosigkeit der Aufrechterhaltung ihrer bisher ohnehin meist mühseligen Existenz signalisiert haben; ebenso trug die bessere Kenntnis des Weltgeschehens zweifellos auch dazu bei, beispielsweise in Rußland nach neuen Absatzwegen zu suchen. Rußland muß damals aus vielen Gründen eine große Anziehungskraft gehabt haben. Die Gemahlin König Wilhelms I., Katharina, war die Tochter der aus dem württembergischen Mömpelgard stammenden Zarinmutter Sophie Dorothea; sie hatte in dem durch Kriege, Mißernten und Seuchen in den Jahren 1816 und 1817 völlig verarmten Württemberg überall Wohltätigkeitsvereine und "Suppenanstalten", wie es sie auch in Rußland gab, ins Leben gerufen. Die ersten Weizenlieferungen kamen aus Odessa. Zar Alexander hatte im Jahr 1815 mehrere Städte in Südwestdeutschland besucht und galt als der große Gegenspieler Napoleons; viele Pietisten sahen in ihm den Befreier der Welt von einem mit Gottes Hilfe besiegten Teufel. Tausende von Württembergern waren schon nach Rußland ausgewandert. Vermutlich hatte man in Gönningen deshalb wohl auch Anschriften von Verwandten und Freunden, an die man sich am manchmal Tausende von Kilometern entfernten Reiseziel halten konnte. Doch erwähnt der Hofrat Lehr im "württembergischen Hof- und Staatskalender" von 1811 bereits einen Gönninger, "der sich der Ehre rühmt, der Kaiserinmutter schon dreimal aufgewartet zu haben", der also schon vorher nach Petersburg, vermutlich nach Pawlowsk, dem Lieblingsaufenthalt der Zarinmutter, gekommen sein muß. Pawlowsk mit seinen Kunstschätzen, den herrlichen Gartenanlagen und dem landwirtschaftlichen Lehrgut, das die Tochter Katharina später zum Ausbau der Domäne Hohenheim zur Ackerbauschule anregen sollte, hat sicherlich einen tiefen Eindruck auf den Gönninger Handelsmann gemacht. (In Petersburg gab es bis 1914 auch ein Gönninger Samen- und Blumenzwiebelgeschäft.)
Das Land dürfte also nicht zuletzt aus solchen und ähnlichen Gründen eine große Faszination für viele Gönninger Händler gehabt haben. Das Verlockende an den Reisen nach Rußland, nach der Schweiz, nach Skandinavien, in die Balkanländer und wo immer sie sonst noch hinkamen, war natürlich in erster Linie, daß sich dort einfach bessere geschäftliche Möglichkeiten zu eröffnen schienen als im eigenen Land, wo der Handel durch die Hausierordnung von 1828 und die Gewerbeordnung von 1851 immer stärker behördlichen Reglementierungen unterworfen wurde. Solche Handelshemmnisse bedrohten die Existenz vieler Gönninger Händler auch später noch, am ernstesten schließlich durch die zwischen 1896 und 1914 unternommenen Versuche, den Hausierhandel in Deutschland völlig zu unterbinden.
Dabei zeigte sich allerdings noch einmal der ungebrochene Wille
zur solidarischen Selbstbehauptung. Denn den Gönningern unter
ihren Schultheißen Büchele und Felger gelang es, zusammen
mit den Reichstagsabgeordneten Payer und Siegle, für Gönningen
jene als "Lex Gönningen" in die deutsche Rechtsgeschichte
eingegangene Änderung der Gewerbeordnung durchzusetzen, derzufolge
der Handel mit Gemüsesamen weiterhin vom Hausierverbot ausgenommen
blieb. Um ihr Anliegen durchzusetzen, war eine Gönninger
Abordnung sogar beim Reichstag in Berlin erschienen. Zu Hilfe
kam ihnen dabei auch das Vorbringen des Abgeordneten v.Wangenheim,
der sich für den Ort Bardowick bei Lüneburg, wo seit
langem ein hausierweise betriebener "Saatenhandel" mit
Abnehmern in der näheren Umgebung bestand und wo die Verhältnisse
ähnlich lagen, eingesetzt hatte. Es waren immerhin noch etwa
600 Gönninger Händler, für die damit die Gefahr
des Existenzverlustes abgewendet werden konnte. Die meisten anderen
hatten sich bereits durch die Gründung fester Niederlassungen
in ihren Hauptabsatzgebieten sowie mit dem Übergang vom Hausier-
zum Bestellsystem den durch Post und Bahn veränderten Verhältnissen
angepaßt. Zu den Abgewanderten gehörten allerdings
oft auch diejenigen, deren Wegzug für das Wirtschaftsleben
und Steueraufkommen der Gemeinde besonders folgenreich war, nämlich
die größeren Samenhändler und vor allem die Hopfenhändler,
die es inzwischen vielfach zu einem nicht unbeträchtlichen
Vermögen gebracht hatten.
Für die Ausbreitung des Handels in Gönningen war auch
das Zusammen- und Wechselspiel von Pfarrer und Gemeinde das ganze
Jahrhundert hindurch von erheblicher Bedeutung. Schon im Jahr
1797 hatte die Kirchengemeinde einen Samenhändler "zur
Ersammlung milder Beiträge" für den Neubau von
Schule und Kirche in die von Gönninger Samenhändlern
besuchten Schweizer Kantone entsandt. Dann hatte der von 1802
bis 1823 hier amtierende Pfarrer Wurster, selber ein "tüchtiger
Pfarrer, Bienenvater, Uhrenmacher und Blumist", mit seiner
eigenen Nelkenzucht den Händlern manche Hinweise für
eine wenn auch nicht allzugroße Eigenproduktion von Saat-
und Pflanzgut sowie wohl auch für den Bezug von Blumenzwiebeln
aus Holland gegeben. Vor allem aber spielte, trotz der von den
Ortspfarrern immer wieder beklagten religiösen Dickfelligkeit,
der in vielen schwäbischen Familien beheimatete Pietismus
gerade in Gönningen eine große Rolle, nicht zuletzt
deshalb, weil er im hohen Maße die Tugenden des Sparens,
des Arbeitsfleißes und des "Konsum-verzichts"
zugunsten des geschäftlichen Auf- und Ausbaues förderte.
Die Berichte über die gefahrvollen Reisen, von denen viele
Händler ja auch nicht mehr zurückkehrten, zeugen nicht
nur von Unternehmerinitiative und unverkennbarer Lust an der draußen
gewonnenen Freiheit, sondern auch von einem Gottvertrauen, das
tief im religiösen Grundgefühl der damaligen Generationen
verwurzelt war. Man wußte, daß aller Segen letztlich
"von oben" kommt; das gehört zu jenem von Max Weber
beschriebenen "Geist des Kapitalismus", der auch das
Handelsleben vieler Gönninger Familien kennzeichnete. Besonders
waren es die Frauen, die bei ihrer vielfachen Belastung durch
Familie und Geschäft immer wieder Trost in der Religion suchten.
Indessen hatte aber der allzuspäte Anschluß an das Post- und Eisenbahnnetz auch dazu beigetragen, daß immer mehr Familien in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts abgewandert waren. Nach und nach war es im jetzt für alle zugänglichen Reichsgebiet zu vielen Geschäftsgründungen gekommen. Bis zum Jahr 1914 fand man Geschäfte Gönninger Ursprungs überall in Deutschland. Es gab sie - die Aufzählung ist wahrscheinlich unvollständig - in Altenburg, Bautzen, Berlin, Bretten, Bruchsal, Döbeln, Eislingen, Erfurt, Freiburg, Friedberg, Gera, Glauchau, Görlitz, Heidelberg, Ingolstadt, Kehl, Kempten, Krimmitschau, Landshut, Liegnitz, Lörrach, Mannheim, Marburg, Meißen, Offenburg, Pfronten, Regensburg, Reutlingen, Saarbrücken, Saarburg, Sigmaringen, Straubing, Stuttgart, Tübingen, Wallerstein, Worms, Zittau, Zweibrücken und in den nach 1871 zum deutschen Reichsgebiet gehörenden elsässischen Städten Mühlhausen, Thann, St.Ludwig und Schlettstadt; in manchen Orten waren es gleich mehrere. Noch nach 1945 gab es Neugründungen in Böblingen und Biberach. In Österreich bestanden Geschäfte in Eger, Salzburg, Wien, vorübergehend wohl auch in Klagenfurt und Graz; in der Schweiz in Altstätten, Basel, Bern, Genf, Burgdorf, Fribourg, St.Gallen, Olten, Rapperswyl, Triesen (Liechtenstein), Zürich und anderen Orten. Es ist heute oft schwierig, die Gönninger Herkunft noch zu ermitteln, zumal dort, wo die Frauen heirateten und die Geschäfte dann andere Namen trugen oder in fremde Hände übergingen. Sogar in New York und, wie schon erwähnt, in St.Petersburg war es zur Errichtung von Depots bzw. Verkaufsgeschäften gekommen.
Zwar hatten die Abwanderungen auch zu einem rapiden Absinken der
Steuerkraft geführt, doch stand der Ort bis zum ersten Weltkrieg
noch immer in einer vielbeneideten Blüte, zumal auch die
Verbindung zwischen den auswärtigen Gönningern und ihrem
Heimatort nur selten abriß. Das lange, durch Krieg und Inflation
bedingte Ausbleiben der Gönninger Lieferungen hatte aber
auch dazu geführt, daß sich nach der allmählichen
Konsolidierung die inzwischen erstarkten schweizerischen Firmen
jetzt gegen die Konkurrenz der Gönninger Händler wehrten;
auch andere traditionelle Absatzgebiete waren verlorengegangen.
Dazu setzte nun in den Zwanzigerjahren jene Entwicklung des Verkehrs
und der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse
ein, welche die alte Versorgungsfunktion des Gönninger Handels
immer bedeutungsloser machte. Geschäfte, die Sämereien
führten, gab es mittlerweile fast in jedem Ort; das Auto
erschloß auch die bisher marktfernen Regionen. Viele Gönninger
Händler oder ihre Söhne waren gefallen; viele hatten
ihre Kundschaft verloren. Der zweite Weltkrieg, der dann auch
den Verlust der mittel- und ostdeutschen Absatzgebiete zur Folge
hatte, war in diese Hinsicht noch verhängnisvoller und führte,
ganz abgesehen von den Menschenverlusten, zu weiteren gewaltigen
Einbußen und zur schließlichen Aufgabe vieler der
zuletzt oft noch von den Frauen weitergeführten Geschäfte.
Doch die Rückläufigkeit des Handels hatte noch andere Ursachen. Da er ja nicht zuletzt wegen der wachsenden Konkurrenz der örtlichen Handelsgeschäfte und selbständigen Gärtnereien immer mehr zurückging, stellt sich zunächst einmal die Frage, warum es in Gönningen eigentlich stets beim Handel geblieben ist und warum sich nicht auch hier eine umfangreiche Saatgutproduktion auf der Grundlage eigener Pflanzenzüchtung herausgebildet hat. Immer wieder spürt man bei den Abnehmern eine gewisse Enttäuschung, wenn sie hören, daß der Samen gar nicht in Gönningen geerntet worden ist.
Abgesehen von mehr der Kontrolle dienenden verhältnismäßig geringfügigen Anpflanzungen hat sich tatsächlich ein professioneller Anbau von Gemüse und Blumen zur Samengewinnung in Gönningen kaum entwickelt. Wer danach fragt, hat gewöhnlich dabei das Bild der großen Zentren der Saatguterzeugung vor Augen, wie sie z.B. in Erfurt und Quedlinburg von 1840 an zunehmende und weltweite Bedeutung erlangten. Er denkt wohl auch an große Gemüse- und Blumenfelder in anderen Gegenden Deutschlands, in Holland, Dänemark, Frankreich, Italien und sonstigen Produktionsländern; von dort kam ja tatsächlich auch das Saatgut für die meisten Gönninger Firmen.
Man muß sich aber nur einmal vergegenwärtigen, wie Samenbau und Samenzüchtung stets durch Lage und Bodenart der Feldmark begünstigt wurden, um sofort zu erkennen, daß solche Voraussetzungen in Gönningen schlechterdings nicht gegeben waren. Im Gebiet um Quedlinburg beispielsweise liegen die Felder in den tiefen Senkungen des Bodetals, eingebettet in die Vorberge des Harzes; langgestreckte Höhenzüge ziehen sich in West-Ost-Richtung hindurch. Aber zwischen kleineren Zügen und Hügeln liegen immer noch so breite Täler, daß die Sonne sie ungehindert den ganzen Tag bescheinen und erwärmen kann. Die Höhenzüge halten die Winde ab, so daß die erwärmten Luftschichten ruhig auf den Fluren lagern können; der Harz sendet, bei vorherrschenden Westwinden, genügend feuchte Bergluft. Dazu kommt eine große Mannigfaltigkeit der Bodenarten. Auch sonst bestanden für den Samenbau fast überall andere Voraussetzungen als in Gönningen. So gab es in Quedlinburg eine alte, auf die Hofhaltung eines früheren reichsfreien Stiftes zurückgehende Tradition des Blumensamenanbaues, für den kunst- und prachtliebende Äbtissinnen nach dem Vorbild des französischen und kursächsischen Hofes den Grund zur Heranzucht von damals neuartigen Blumen und noch wenig bekannten Gemüse- und Fruchtsorten legten. In anderen "klassischen" Anbauregionen war die Entwicklung der Samenzüchtung in ähnlicher Weise durch klimatische, geologische oder historische Voraussetzungen begünstigt worden, von ihrer späteren vielfachen staatlichen Förderung aus wirtschaftspolitischen Gründen ganz abgesehen.
In Gönningen dagegen, am Fuße der rauhen Alb, in einer
Höhenlage von ca.500 m, machte die verhältnismäßig
kurze Vegetationsperiode das Ausreifen des Samens von vornherein
allzusehr von den nur selten günstigen Witterungsbedingungen
abhängig. Bei der landwirtschaftlichen Struktur der Gemarkung
mit ihren Streuobstwiesen und den allenfalls nutzbaren kleinen
Parzellen war auch von der Fläche her kein großer Ertrag
zu erwarten. So ist es hier erst nach 1945 vorübergehend
zu einem systematischen Anbau von sog. Vorstufensaatgut zum Zweck
des Vermehrungsanbaus im Ausland gekommen. An eine den Einzelbesitz
übergreifende gemeinsame Konzeption für Erzeugung oder
gar Absatz war wegen der ganz auf dem persönlichen Verhältnis
beruhenden Verbindung zwischen dem Kunden und dem Gönninger
Lieferanten ohnehin nicht zu denken. Es fehlten jedenfalls für
einen auch nur einigermaßen erfolgversprechenden Samenanbau
größeren Umfangs so gut wie alle wirtschaftlichen Vorbedingungen.
Gönningen war und blieb - zum Glück, muß man heute
wegen der damit erhaltengebliebenen größeren Flexibilität
angesichts des Verfalls der deutschen Saatgutproduktion sagen
-, ein Ort des Handels und des Warenumschlags. In den letzten
Jahren sind in Deutschland und ganz Europa viele der ehemaligen
Anbauflächen rücksichtslos überbaut worden, der
Ausuferung der Städte und dem Straßenverkehr zum Opfer
gefallen oder aus anderen Gründen verschwunden; übriggeblieben
ist nur noch die oft wehmütig stimmende Erinnerung an die
einstigen großen Blumen- und Gemüsefelder auch in unserm
Land.
Doch weil der Handel mit Sämereien nun einmal von Landwirtschaft und Gartenbau abhängt, wo es in den vergangenen Jahrzehnten zu einem dramatischen Rückgang kam, ist seine Situation heute problematischer als je zuvor, und dies nicht nur in Gönningen. Samenhandlungen jener Art, wie sie früher überall zu finden waren, gibt es in Deutschland schon längst nicht mehr. An ihre Stelle sind Gartencenter, Bau- und Supermärkte getreten, die Sämereien und Blumenzwiebeln in Packungen anbieten; ihre Belieferung erfolgt vielfach durch oft international verflochtene, kapitalstarke Großfirmen. Die traditionellen Gärtnerkunden, soweit sie überhaupt noch existieren, haben sich größtenteils auf mehr oder weniger von den Züchtern direkt vertriebenen Hybridsorten spezialisiert oder sie brauchen wegen der Verwendung von Halbfertigerzeugnissen, Jungpflanzen, Saatrollen und ähnlichem, so gut wie kein handelsübliches Saatgut mehr. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft, früher Abnehmer hauptsächlich von Futterrübensamen, ist nahezu bedeutungslos geworden.
Freilich heißt das nicht, daß damit dem Gönninger
Samenhandel die Existenzgrundlage von der Bedarfsseite her völlig
entzogen worden wäre. Abgesehen davon, daß sich auch
hier Firmen auf die Belieferung von Ladengeschäften, Kaufhäusern
und anderen Samenverkaufsstellen eingerichtet haben, gab und gibt
es noch immer Marktnischen, die wegen des traditionellen Käuferverhaltens
fast ausschließlich den Gönninger Lieferanten zugänglich
sind. Dazu bedarf es einiger Erläuterungen.
Die Gönninger Geschäfte sind durchweg Familienbetriebe, deren Rentabilität auf der vergleichsweise günstigen Kostenstruktur beruht.
Typisch ist eine zwischen Mann und Frau bestehende Arbeitsteilung. Im Gegensatz zu kapital- und lohnintensiven Großbetrieben entstehen größere Lohn- und Lohnnebenkosten hier fast immer nur in den Wintermonaten. Man kommt im allgemeinen mit wenigen festangestellten und während der Versandzeit mit einigen zusätzlichen Kräften aus, meist ortsansässigen und mit den Arbeiten seit Jahren vertrauten Frauen, die diese leichte Halbtagstätigkeit gern wahrnehmen; im übrigen helfen die Familienangehörigen mit. Dadurch entfallen die oft zu Buch schlagenden Ausgaben für manchen Leerlauf und bürokratischen Aufwand; es herrscht überall eine freundliche, familiäre Atmosphäre und ein angenehmes, effizientes Arbeitsklima.
Da die Hauptarbeit in die Wintermonate fällt, haben die Gönninger Samenhändler und Samenhändlerinnen Gelegenheit, sich während der übrigen Zeit des Jahres um die Vorbereitungen für den Versand, um Einkaufsdispositionen, Angebotslisten, Buchhaltungsarbeiten usw., aber vor allem auch um ihre Kunden zu kümmern. Dies erlaubt ihnen nun die Aufrechterhaltung jenes persönlichen, oft engen Kontaktes, auf dem die immer wieder erstaunliche, manchmal geradezu rührende Anhänglichkeit der oft seit Generationen belieferten Kundschaft beruht. Natürlich gehen die meist ländlichen Kunden schon mal in ein Stadtgeschäft, um ein paar Samentüten, die sie zu bestellen vergessen haben, oder diejenigen Gartenartikel einzukaufen, die, weil für den Versand ungeeignet, nicht im Sortiment des Gönninger Lieferanten enthalten sind, bestellen wohl auch gelegentlich irgendwelche Raritäten bei anderen Versandfirmen, aber mit großer Regelmäßigkeit kommen sie dann doch immer wieder auf ihre alte Gönninger Bezugsquelle zurück.
Das mag seinen Grund einmal in der Sorgfalt haben, die man in
Gönningen auf einen hierzulande besonders wichtigen Artikel
verwendet, nämlich die Steckzwiebeln; wahrscheinlich werden
diese nirgendwo pfleglicher getrocknet, geputzt und abgefüllt
als in einem Gönninger Familienbetrieb. Der noch wichtigere
Grund dürfte aber sein, daß die hauptsächlich
durch örtliche Auftragssammler, meist Frauen mit einem größeren
Verwandten- und Bekanntenkreis, aufrechterhaltene persönliche
Beziehung eine jede anderen Werbung überlegene psychologische
Situation schafft. Man müßte erst eine ziemlich starke
Hemmschwelle überwinden, um sie unverrichteter Dinge wieder
wegzuschicken; außerdem war man ja mit der letzten Lieferung
zufrieden und bestellt deshalb im großen ganzen und aus
Bequemlichkeit wieder dasselbe wie im Vorjahr. Es ist immer wieder
bemerkenswert, wie oft auch jüngere Leute den kleinen, mit
der Auftragsentgegennahme verbundenen Nebenverdienst mitnehmen
wollen, so daß sich die - wegen des meist höheren Lebensalters
der Auftragssammler und Auftragssammlerinnen zu befürchtenden
- Umsatzrückgänge durchaus in Grenzen halten.
Ein weiterer Vorteil liegt noch immer in den verhältnismäßig niedrigen Betriebskosten, der meist nur kleinen Lagerhaltung und dem ge-ringen Kapitaleinsatz, da, von Fahrzeugen und Büromaschinen abgesehen, betriebsnotwendige Investitionen nur gelegentlich anfallen. Bei der Verteilung des Risikos auf viele kleine Einzelbeträge kommen größere Verluste kaum vor; so ist denn auch die Liquidität im allgemeinen überdurchschnittlich gut. Dagegen hat freilich der permanente Kostendruck, wie in den meisten Handelsbranchen, auch hier ständig zugenommen; wo immer die Kosten stärker als der Umsatz steigen und eine Erhöhung der Betriebshandelsspanne wegen der Wettbewerbssituation auf dem Markt nicht möglich ist, muß zwangsläufig die Differenz zwischen der Spanne und den Kosten kleiner, das betriebswirtschaftliche Ergebnis mithin rückläufig sein.
Dieser Kostendruck zeigt sich tatsächlich bei jeder Gelegenheit,
angefangen bei den unvermeidlichen Reisespesen und Fahrzeugkosten
über die Aufwendungen für Druckerzeugnisse, Papiertüten
und vor allem für das Porto bis hin zu den Beschaffungskosten
für die eigentliche Handelsware, das Saatgut. Es besteht
zunehmend aus immer teurer werdenden Spezialitäten und Neuzüchtungen
in Keimschutz- oder nach Kornzahlen abgefüllten Packungen,
deren Besorgung und Weitergabe oft nur noch ein kostspieliger
Kundendienst ist. Das nach dem Gemeinsamen Sortenkatalog der Europäischen
Gemeinschaft vertriebsfähige Gemüsesamensortiment hat
sich von 3224 Sorten im Jahr 1972 bis zum Jahr 1994 auf mehr als
8000 Gemüsesorten vergrößert und wird immer weiter
ergänzt. Es ist zu erwarten, daß mit der bevorstehenden
völligen Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft das
Angebot auch bei uns entsprechend zunimmt und daß die Bereitstellung
auch nur eines Teils dieses Riesensortiments den kleinen und mittleren
Handel in eine kaum noch kompensierbare Kostensituation bringt.
Diese ständige Sortimentserweiterung hat jetzt schon zur
Folge, daß der Bedarf an den einzelnen Sorten immer mehr
zurückgegangen ist. Der Einkauf größerer Mengen
einer Sorte zu günstigen Preisen, wie ihn etwa auch die Gönninger
Sameneinkaufsgenossenschaft jahrzehntelang vornehmen konnte, ist
praktisch kaum noch möglich. Aber auch bei den auf Rationalisierung
angewiesenen Lieferanten wird die Belieferung des Zwischenhandels
mit kleinen Mengen immer aufwendiger, weshalb solche Aufträge
bei den auf größere Verkaufseinheiten eingestellten
Lieferfirmen inzwischen meist schon ganz uninteressant geworden
sind und, wie z.B. bei gewissen Liebhabersorten von Blumenzwiebeln,
erst gar nicht mehr ausgeführt werden.
Bei allem, was sich durch das Wachstum des "Grünen Marktes" und die Hinwendung zu größerer Naturnähe im privaten Gartenbereich durchaus auch positiv für den Gönninger Samenhandel auswirkt, darf man doch nicht übersehen, daß die Stärke der hiesigen Versandgeschäfte in der weitgehenden Beschränkung auf Sämereien und Blumenzwiebeln liegt. Diese Beschränkung hat sie davor bewahrt, in eine aussichtslose Konkurrenz zu den Gartencentern und sonstigen örtlichen Verkaufsgeschäften mit einem kaum noch überschaubaren Angebot an einschlägigen, für den Versand aber ungeeigneten Gartenbedarfs- und Freizeitartikeln treten und dabei die bisherige kostengünstige Betriebsstruktur des Familienbetriebes aufgeben zu müssen.
Aber eben die beiden Warengruppen, Sämereien und Blumenzwiebeln,
haben an der Prosperität des "Grünen Marktes"
nicht bzw. nur in einer die Umsätze des Gönninger Samenhandels
kaum beeinflussenden Weise teilgenommen. Die Zahl der Haus- und
Kleingärten hat sich von 1961 bis 1988 zwar mehr als verdoppelt;
etwa die Hälfte der deutschen Haushalte hat heute ein kleines
Stück Natur und Grün ums Haus. Aber die Funktion des
Gartens, der früher vorwiegend zur Versorgung der Familie
mit Frischgemüse diente, ist heute eine andere geworden.
Mehr als drei Viertel dieser Gärten werden als Zier- und
Mischgärten genutzt. Ein Durchschnittshaushalt besteht statistisch
nur noch aus 2,3 Personen; die Zahl der Singles, der Alleinstehenden
oder der aus Alters- und sonstigen Gründen nicht mehr an
der Gartenarbeit Interessierten nimmt ständig zu. Die eigentlichen
Gartenflächen werden immer kleiner. Diese und andere Entwicklungen
bewirken, daß die Ausgaben für Baumschulwaren, Stauden,
Sämereien und Blumenzwiebeln nur ein Drittel der insgesamt
für den Garten getätigten Ausgaben ausmachen; zwei Drittel
entfallen auf Geräte, Dünge- und Pflanzenschutzmittel,
Gartenmöbel und ähnliches. Dabei geht die Nachfrage
nach Sämereien und Blumenzwiebeln weiter zurück; sie
wird ersetzt durch die Nachfrage nach Balkon- und Beetpflanzen
sowie nach Gemüsejungpflanzen, was den Bedürfnissen
der Freizeitgesellschaft mehr entgegenkommt. Was die Blumenzwiebeln
betrifft, so liefern die holländischen Exporteure etwa 50%
der Packungsware direkt an die großen Lebensmittelmärkte,
Baumärkte und Warenhäuser; an Gartencenter und Gartenfachgeschäfte
lediglich noch 10 bis 15%. Der Rest geht, zunehmend unter Umgehung
des Importhandels, unmittelbar an Gartenämter, Verwaltungen
usw.
Geht also die Zeit des Gönninger Samenhandels endgültig zuende? Die meisten jungen Leute befürchten es, obwohl eine Vergrößerung der jetzigen Kapazität der Gönninger Geschäfte zum Zweck des Ausbaues der Geschäftsverbindungen in manchen noch vergleichsweise ländlich geprägten Regionen oder gar in den ja immerhin schon einmal von Gönninger Samenhändlern aufgesuchten östlichen europäischen Ländern durchaus vorstellbar wäre.
Es würde das Ende eines Berufsstandes bedeuten, der Vielseitigkeit, Freiheit und Naturbezogenheit miteinander verbindet wie kaum ein anderer, mag der materielle Gewinn dabei auch kleiner bleiben als der Gewinn im "menschlichen" Bereich. Die Prognose für eine solche Berufstätigkeit ist nicht günstig, trotz der gegenwärtigen hohen Arbeitslosigkeit und der allmählichen Schärfung des Bewußtseins für ökologische Zusammenhänge. Dennoch ist wohl auch weiterhin mit dem zu rechnen, was amerikanische Soziologen als "lag" bezeichnen, nämlich das Zusammenwirken jener eigentlich schon längst hinter der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zurückbleibenden, aber von Tradition und guten Erfahrungen immer wieder genährten Beharrungskräfte, die etwas mit einem "menschlichen Maß" zu tun haben und die dem Gönninger Samenhandel, auch bei Beibehaltung der bisherigen Betriebsformen, noch eine ganze Weile die Fortdauer seiner dreihundertjährigen "Überlebensgeschichte" sichern dürften.